Wird Brosius-Gersdorf doch noch Verfassungsrichterin? „Die ist verbrannt“, sagt ein CDU-Abgeordneter

Es hat etwas Unwürdiges, als Julia Klöckner die Bundestagsdebatte um 10.17 Uhr unterbricht. Das Parlament erinnert an diesem Freitagvormittag an den Völkermord von Srebrenica, es ist der 30 Jahrestag des Massakers, im Plenum ist es fast ganz still. Die Unterbrechung erfolge auf Wunsch der SPD, sagt die Bundestagspräsidentin. Die Sozialdemokraten haben eine Fraktionssitzung angemeldet.
Die SPD wird nun aufgeben. Sie beschließt, die geplante Wahl von Frauke Borsius-Gersdorf, ihrer Kandidatin für einen Richterposten am Bundesverfassungsgericht, abzusagen, sie zu verschieben. So etwas gab es noch nie im Bundestag. Eine Koalition hat sich auf Kandidaten geeinigt und muss die Abstimmungen platzen lassen. Weil die eigenen Reihen doch nicht geschlossen sind. Wie konnte das geschehen?
In den Tagen zuvor war Brosius-Gersdorf zum Gesicht der ersten echten Krise der neuen Regierungskoalition geworden. Einer Krise zwischen Union und SPD, die seit Montag immer größer wurde, bis sie am Freitag eskalierte. Die am Ende in einem Desaster mündete. Für die Union, von der viele Abgeordnete die Juristin ablehnten, vor allem wegen ihrer Aussagen für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Für die SPD, die zwar an Brosius-Gersdorf festhalten will, ihre Kandidatin aber wohl kaum halten können wird. „Die ist verbrannt“, wird ein CDU-Abgeordneter am Abend der Berliner Zeitung sagen.
Hinter diesem Chaos steht ein Organisationsversagen in der Union. Auch mangelndes Feingefühl. Ihre Führung um Fraktionschef Jens Spahn unterschätzte, wie groß die Ablehnung gegenüber den Positionen der SPD-Kandidatin war. Das sagen mehrere Unionsabgeordnete. Sei es ihre Befürwortung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht oder ihr Satz „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt“, der mit den Werten vieler katholischer Konservativer nicht vereinbar ist. Auch große Medien hätten nicht erkannt, wie aufgeladen das Thema sei, meint ein CDU-Politiker. Das gelte nicht nur für seine Fraktion, sondern für die Gesllschaft insgesamt. „Lebensschutz ist kein Winkelthema“, sagt er.
Rechtskonservative Portale kommentierte hingegen schon länger gegen die Juristin. Die Fraktionschefin der Grünen, Britta Haßelmann, beklagt deshalb im Plenum den Einfluss „rechter News-Portale“ auf die Unionsfraktion. Das kann man so verstehen, als handle es sich bei Bundestagsabgeordneten nicht um erwachsene Menschen. „Es gibt eine Brisanz von echten Wertefragen jenseits vom Gendern“, heißt es hingegen aus der Union.
Der gesellschaftliche Kulturkampf, ein Begriff, der von einigen Unionspolitikern keinesfalls abwertend genutzt wird, hat CDU und CSU längst erfasst. Doch ihre Spitze hat ihn verschlafen.
SPD sieht „Hetzjagd aus rechten Kreisen“Derweil gelang es der SPD zu keinem Zeitpunkt, die Debatte um ihre Kandidatin auch nur irgendwie zu beeinflussen. Jetzt, da es zu spät ist, beklagt sie eine „Hetzkampagne“ gegen Brosius-Gersdorf, eine „Hetzjagd aus rechten Kreisen“. Sie wirkte während der vergangenen Tage wie eine kraftlose Zuschauerin einer aufziehenden Koalitionskrise. Sozialdemokratische Passivität Deutschlands.
Dabei sollte es doch unspektakulär verlaufen. Die Spitzen von Union und SPD hatten sich auf drei Kandidaten für das Verfassungsgericht geeinigt. Günter Spinner, ein Richter vom Bundesarbeitsgericht, der von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen worden war, wurde von der Union aufgestellt. Neben Brosius-Gersdorf, die an der Universität Potsdam lehrt, sollte auf dem SPD-Ticket Katrin Kaufhold von der Ludwig-Maximilians-Universität München ins Rennen gehen.
Alle drei waren am Montag vom Richterwahlausschuss des Bundestags abgesegnet worden, womit der Weg frei war für das Votum des Parlaments. So läuft das normalerweise. Doch schließlich platzen alle drei Wahlen, weil Brosius-Gersdorf in der Union nicht vermittelbar war.
Am Montag, in einer Fraktionssitzung der Union, entlädt sich der Frust mehrerer Abgeordneter. Schon da kündigt sich an, dass einige nicht der Linie von Spahn und CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann folgen werden. Hoffmann hatte öffentlich angekündigt, man werde Brosius-Gersdorf unterstützen. In den Folgetagen, bis Donnerstagabend, wird die interne Liste der Kritiker immer länger. Irgendwann ist klar, dass die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit aller anwesenden Parlamentarier verfehlt werden könnte.

Aus der Union heißt es nun, viele Abgeordnete hätten erst in der vergangenen Woche die Namen der SPD-Kandidatinnen erfahren, aus Medienberichten oder Zuschriften. Ein Abgeordneter berichtet von 1800 Bürgeranfragen, von denen viele wortgleich gewesen seien. Zahlreiche Absender seien ihm aber bekannt gewesen. So tröpfelte die Gewissheit, mit welchen Juristen man es zu tun hat, nach und nach in die Unionsfraktion.
Für eine ausgeruhte Debatte war es da bereits zu spät. Hätten CDU und CSU frühzeitig über die Kandidatinnen diskutiert, hätten sie ähnlich verfahren können wie einst im Falle von Brosius-Gersdorfs Doktorvater, heißt es aus der Fraktion. 2008 legte die Union ein Veto gegen Horst Dreier als Richter am Verfassungsgericht ein. Sein Name war früher bekannt, in CDU und CSU formierte sich Protest, die SPD lenkte schließlich ein und zog Dreier zurück.
Diesmal läuft es anders. Die Fronten sind verhärteter. Alle späten Schlichtungsversuche scheitern, auch in einer Sondersitzung am Freitagmorgen kann die Unions-Fraktionsführung die Stimmung gegen die SPD-Kandidatin nicht mehr drehen. Vor allem sei aber doch probematisch, dass die Sozialdemokraten ihre Kandidatin trotz mehrerer Gespräche nicht aufgeben wollten, heißt es aus der Union. „Friss oder stirb“, sei die Haltung der SPD gewesen, sagt ein Fraktionsmitglied.
Am Freitagmorgen sickert in die Medien, dass die Union die Richterwahl absetzen oder sich bei der Abstimmung über Brosius-Gersdorf enthalten wolle. Es ist absehbar, dass die Juristin an diesem Tag nicht zur Verfassungsrichterin gewählt wird. Als Begründung dienen der Unionsspitze jedoch nicht die Positionen zu Abtreibung oder Impfung. Brosius-Gersdorf habe womöglich in ihrer Dissertation plagiiert, heißt es. Am Abend zuvor hatte der österreichische Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber, der sich „Plagiatsjäger“ nennt, einen Beitrag zu „23 Textparallelen“ zwischen ihrer Arbeit und der Habilitationsschrift ihres Ehemannes veröffentlicht.
Plagiatsvorwürfe hielten die CDU allerdings nicht davon ab, an Mario Voigt als Spitzenkandidat in Thüringen festzuhalten. Sie halten auch Friedrich Merz nicht davon ab, Kanzler zu bleiben. Obwohl ausgerechnet jener „Plagiatsjäger“ beiden CDU-Politikern unaubere Zitierweise vorwirft. Alles nur Vorwürfe, versteht sich. Aber verlangt das Amt des Bundeskanzlers weniger Redlichkeit als ein Posten am Bundesverfassungsgericht? Die Kandidaten müssten „über jeden fachlichen Zweifel erhaben“ sein, sagt Steffen Bilger im Bundestag, der Vize der Unionsfraktion. Doch bei Brosius-Gersdorf sei dies „aus unserer Sicht nun nicht mehr vollständig gegeben“. Zumal Weber selbst nicht mal von Plagiatsvorwürfen sprechen will, wie er der Berliner Zeitung sagt. Es ist das Wording der Unionsspitze.
Wackelt jetzt der Fraktionschef Spahn?Am Freitagmittag, um kurz nach 12, stimmt der Bundestag schließlich über die Absatzung der Richterwahlen ab. Nur die AfD-Fraktion ist dagegen. Gelächter in den Reihen der Rechtsaußenpartei, als Union bis Linke geeint die Hände heben. Genau dort will die AfD die Konservativen haben.
Die Bild-Zeitung wird einen Kommentar mit dem Titel „Dieses Desaster hat einen Namen: Jens Spahn“ veröffentlichen. Ist der Fraktionschef nach diesen turbulenten Tagen, in denen „ernste Fehler“ gemacht wurden, wie es aus der Union heißt, angezählt?
Es ist fast 14 Uhr, als die Union zu einer weiteren Sondersitzung zusammenkommt. Spahn und Bilger hätten „getroffen“ gewirkt, heißt es später. Jedem sei klar, dass es nicht gut lief für CDU und CSU. Eine Personaldiskussion sei allerdings nicht in Sicht, sagt ein Abgeordneter. Doch eine Frage hätte mehrere Kollegen bewegt. Hatte Britta Haßelmann von den Grünen recht, als sie im Plenum sagte, die Spitzen von Union und SPD hätten ihrer Fraktion bereits vor fünf Wochen das Kandidatenpaket präsentiert, als „gemeinsamen“ Vorschlag der Koalition?
Man gehe nun mit dem Wissen in die Sommerpause, dass dies stimme, heißt es aus der Union. Es wäre also genug Zeit gewesen, dieser Eskalation, die sich am Freitag im Bundestag ihren Weg bahnte, vorzubeugen. Jetzt sei man „erleichtert“, dass es keinen „Showdown“ einer Wahl von Brosius-Gersdorf gab, sagt ein Abgeordneter. Und zugleich „unglücklich“, dass es auf diese Weise so kam.
Berliner-zeitung